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Ритмы истории - Василий Шубин

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Dem Alltagsleben, wie auch der Wissenschaft, sowohl den Geistes–als auch den Naturwissenschaften, liegt ein Beziehungsgeflecht von Erfahrung, Erklärung und Handeln zu Grunde, die sich nicht einzeln konstituieren, sondern immer nur in ihrem Verbund sind, was sie sind. Durch Handeln erwerben wir Erfahrungen, die nur deshalb, weil wir ihnen – implizit oder explizit – eine Erklärung zugrunde legen, erfahrbar sind. Erfahrungen aber gehen auch jeder Handlung voraus, die wir nur vollziehen, weil wir aus unserer bisherigen Erfahrung und deren theoretischer Erklärung erwarten dürfen, dass sie zukünftig ein bestimmtes Resultat bewirken. Die theoretischen Erklärungen müssen jeder Handlung vorausgehen, damit wir das Handlungsresultat überhaupt als Resultat unserer Handlung und damit als Grundlage und Prognoseinstrument für weitere Handlungen verstehen können. Das Zusammenwirken konsistenter Handlung, Begriffen und Erfahrung, die immer zugleich auftreten, ist grundlegend für jede menschliche Existenz. Vorausgesetzt wird dabei nicht, dass die Konsistenzüberlegungen bei jeder Handlung im einzelnen rational vollzogen werden, vielmehr gilt für die alltäglichen Handlungen, dass sie routiniert über eingefahrene Schemata ablaufen. Fast immer verhalten wir uns, wie wir uns verhalten, weil wir uns in vergleichbaren Situationen schon immer so verhalten. Wir können dieses Verhalten ex post erklären und eine Konsistenz sowohl mit den übrigen Erklärungskonzepten, den Begriffen, die wir haben, feststellen, als auch mit den übrigen Erfahrungen, die uns präsent sind und deren Erklärung die Kohärenz unserer Handlungen überprüfbar macht.

Das, was die kohärenten Einzelelemente unseres Wissens sind, macht kontinuierliche Räume aus: den Erfahrungsraum, den Handlungsraum und das Gefüge der zu Theorien verdichteten Begriffe. Während jeder ihrer Handlungen freilich überprüfen Individuen implizit ihre Schemata und verändern sie geringfügig. Dies geschieht, wenn unser Erfahrungsraum erweitert wird. Wenn wir häufiger Erfahrungen machen, die uns so bislang nicht bekannt sind, suchen wir nach neuen Erklärungen, um mögliche zukünftige Handlungen vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen absehbar zu machen. Wir erweitern unseren Erfahrungsraum. Zunächst sucht man in dem bestehenden Wissensbestand, ob für diese Erfahrungen bereits von anderen Individuen der Verstehensgemeinschaft Erklärungen (Begriffe) bekannt sind. Wenn dies nicht der Fall ist, wird für die Erfahrung, wegen der möglichen sich daraus ergebenden Handlungen von Individuen, eine neue Erklärung oder neue Begriffe gesucht. Wenn darüber hinaus diese den Kulturträgern der Gesellschaft interessant genug erscheint, dürfen wir erwarten, dass diese veränderten Erklärungen hinreichend in der Gesellschaft kommuniziert werden und zum Allgemeingut werden. Die «Gesellschaft“ hat wieder etwas neu verstanden. Dies kann aus allen Kulturbereichen heraus geschehen und in allen Kulturbereichen beginnen. Dieser Wandel zählt zu dem Alltagsgeschäft des Versehens in der traditionellen Gesellschaft.

Geringfügige Änderungen verträgt das Erklärungssystem, d.h. das Gefüge von Begriffen und Theorien, ohne dass es als ein neues Erklärungskonzept erscheint, denn Modifikationen von Bedeutungen und Bewertungen sind Teil des aktiven Verstehens. Begriffe, und das sind die Elemente der Erklärungskonzepte, sind – in Grenzen – bedeutungsunscharf ausgelegt. Mit jedem Begriff denken wir eine explizite Bedeutung und einen impliziten Bedeutungsgehalt. Die explizite Bedeutung bezeichnet den gedachten Sachverhalt. Der implizite (oder latente) Bedeutungsgehalt enthält Hinweise auf Konnotationen, Kontexte, und Verwendungsmöglichkeiten, unter denen wir die Begriffe konsistent mit der Erfahrung und anderen Begriffen nutzen dürfen. Auch eine Bewertung wird mit dem Begriff verbunden: Unter dieser Werthaltung assoziieren wir den Rang des Begriffs in der Begriffshierarchie der Erklärungen und auch die Wertigkeit, die die Erklärung für eine mögliche Handlung aufgrund der in diesem Begriff enthaltenen Konsequenz hat.[8]

Alle drei Aspekte, die explizite Bedeutung, der implizite Bedeutungsgehalt und die Werthaltung haben wir auf einen Schlag vor unserem Denken, wenn wir Schemata, die auf dem oder den Begriffen beruhen, bei einer Handlung folgen. Dabei erlauben die Begriffe geringe Bedeutungsverschiebungen, deren Grenzen durch den impliziten Bedeutungsgehalt (Kontext, Konnotation) gegeben werden. Wir können und werden wegen dieser Zusammenhänge Handlungen aufgrund von Ähnlichkeiten zu früheren Handlungen ausführen, weil unsere Erklärungskonzepte auf diese zuvor unbekannten Ähnlichkeiten hin orientiert sind. Die Grenzen der Ähnlichkeitsbestimmung werden durch den impliziten Bedeutungsgehalt der Begriffe gegeben.

Mit einem Wandel des Erfahrungsraumes muss daher ein Wandel der Handlungen und der Begriffe einher gehen. Dies ist der Verstehensprozess in der traditionellen Gesellschaft. Dieser «normale“ Wandel von Erfahrungsraum, Handlungsraum und Begriffsgefüge unter dem alltäglichen Verstehen wird in der traditionellen Gesellschaft über viele Jahrhunderte ablaufen, um Neues handhabbar zu machen.

Erst wenn die Erfahrungen, die man macht, überhaupt nicht mehr im bestehenden Begriffsgefüge erklärbar sind, und damit Handlungen eher einem Wunder ähneln, als einem absehbaren Vollzug absehbarer Folgen, dann bedarf es der Änderung grundlegender Begriffe und grundlegender Erklärungskonzepte. Dies hat dann möglicherweise zur Folge, dass alle oder fast alle Begriffe geändert werden müssen. Das hat dann auch zur Folge, dass der Erfahrungsraum einer Gesellschaft sich verschiebt. Manches, was bislang erklärbar war, ist dann mit dem neuen Begriffsgefüge nicht mehr erklärbar, was allerdings nicht bedauert wird, weil man diese (alten) Erfahrungen auch nicht mehr erklären will. Der Erfahrungsraum und der Handlungsraum sind eben völlig verändert. Dieser akzelerierende Wandel von Begriffen und Werten führt zu einer Vielzahl von Erklärungsversuchen, die aber der Konsistenz–und Kohärenzforderung von Handlung und Erfahrungsraum auf die Dauer nicht alle stand halten können. Die Phase, in der dieser akzelerierende Wandel vollzogen wird, ist die Phase einer posttraditionellen Gesellschaft. Sie beginnt mit einer Zunahme der Geschwindigkeit des im übrigen unproblematischen Wandels von Erfahrungsraum, Handlungsraum und deren Erklärungskonzepte den Begriffsgefügen. Die posttraditionelle Phase endet mit einem neuen kohärenten und konsistenten Gefüge von Erfahrungsraum, Handlungsraum und Begriffsgefügen. Sie führt dann zu einer neuen traditionellen Gesellschaft, die den vorherigen traditionellen Gesellschaften nicht mehr ähnelt.

5. Was können wir für den Wertewandel in der subtitleosttraditionellen Gesellschaft daraus schließen?

Unser zentrales Instrument zur Beschreibung des Strukturwandels in der philosophisch erfassten posttraditionellen Gesellschaft ist für den Philosophen der Begriff, der für einen Augenblick das Gefüge aus Erfahrung, Handeln und Erklären festhält. Auf ihm beruht unser Wissen und aus ihm folgt unser Handeln, wie er seinerseits auf unserem Vorwissen und unserem früheren Handeln beruht. Mit unserem Handeln verbinden wir Wertungen, die wir entweder unmittelbar mit diesem Handeln verbinden, oder die wir in der Reflexion mit einem möglichen und projektierten Handeln verbinden wollen. Unter Umständen ist uns unmittelbar einleuchtend, eine Handlung zu begehen oder zu unterlassen. Unter Umständen wird uns dies aber auch erst nach einer längeren und ausführlicheren Reflexion oder auch Kommunikation einleuchtend und erstrebenswert. Sowohl bei unmittelbarer als auch bei mittelbarer Adaptation von Bewertungen mit Handlungen oder Handlungsfolgen verbinden wir die Werte mit Schemata, die unser Handeln steuern. Mit den einzelnen Begriffen, auf denen Schemata beruhen, verbinden wir ja Werthaltungen. Selbst wenn wir auf Grund einer Gesinnungsethik unsere moralischen Maßstäbe entwickeln, kann das doch nur geschehen, weil diese Wertmaßstäbe im Kontext mit unserem Weltverständnis fest mit Schemata verbunden. Sie sind Teil unserer Begriffe, die unseren Erfahrungsraum erklären und unser Handeln steuern. Mit dem Begriff verbinden wir einen expliziten Bedeutungsgehalt, der uns eine Zuordnung an einen materialen Referenten markiert, einen impliziten Bedeutungsgehalt, der uns sagt, welche Kontexte mit dem expliziten Bedeutungsgehalt gemeint sind oder gemeint sein können. Der Kontext referenziert auf eine Abstraktionsgeschichte des Begriffs, insofern bei Begriffen zunächst unmittelbare Handlungszusammenhänge gemeint sind, und dann in einer Anwendungsgeschichte Übertragungen dieser Zusammenhänge vorgenommen werden, wobei der Begriff von dem ursprünglichen Kontext abstrahieren mag. Damit verbunden liegt im Begriff, eine Werthaltung vor. Diese Werthaltung kann an den ursprünglichen Erklärungskontext gebunden sein, oder auch an eine spätere Verwendungsgeschichte des Begriffs. Die Werthaltung mag an den expliziten oder den impliziten Bedeutungsgehalt gebunden sein; sie mag bei einem bestimmten Begriff veränderbar oder unveränderbar sein. In jedem Fall sind alle Begriffe emotiv über diese Werthaltung gebunden. Je stärker die Werthaltung an einen expliziten Bedeutungsgehalt gebunden ist, um so weniger ist der Begriff veränderbar und umso folgenschwerer für das gesamte Weltbild einer Gesellschaft sind Änderungen an diesem Begriff, dessen expliziter Bedeutungsgehalt unmittelbar mit einer Werthaltung verbunden ist.

In der philosophisch als traditionell aufgefassten Gesellschaft sind die Wertungen in hohem Maße feststehend und auch an bestimmte Bedeutungsgehalte gebunden. Verschiebungen der Wertungen finden selten statt. Ethische Normen, nach denen sich unsere moralischen Maßstäbe, d.h. unsere Regeln für unser Handeln orientieren, sind fest mit den Schemata verbunden. Die posttraditionelle Gesellschaft wird dadurch charakterisiert, dass der Wandel von Bedeutungsgehalten und Werthaltungen von Begriffen nicht in großen Zeitskalen geschieht, wie in der traditionellen Gesellschaft, sondern akzelerierend erfolgt – und zwar so schnell, dass eine langfristige Gültigkeit von Werten und Bedeutungsgehalten von Begriffen nicht mehr erlebt wird.

Normen kollabieren unter diesen Bedingungen schließlich rasch; niemand vermag sie mehr als dauerhaft geltend und bindend zu erleben. Da aber ohne Werthaltung niemand verstehen und niemand handeln kann, werden individuelle Substitute für die begrifflichen Werthaltungen gesetzt, für die ein gesellschaftlicher Konsens aber nicht erreicht werden kann. Dies hat meist auch soziale Verwerfungen in der Gesellschaft zur Folge.

Da in der posttraditionellen Gesellschaft die Dynamik und der Wandel selbst zu einem Wert wird, wird es sogar dazu kommen, dass der Wertewandel als ein Wert angesehen wird: Der Tabubruch wird zum Wert der posttraditionellen Gesellschaft. Die Kultur, die zuvor Träger einer konsenten Erklärung und Bewertung in der traditionellen Gesellschaft war, wird nun in der posttraditionellen Gesellschaft davon geprägt, dass sie im Tabubruch die Geltung noch bestehender und u. U. nicht mehr kohärenter Werte bewusst macht und einer expliziten Reflexion unterzieht — wie Filmindustrie und Literatur heute augenfällig machen. Die technischen und naturwissenschaftlichen Neuerungen, die auch mit dem Begriffswandel in der posttraditionellen Gesellschaft einhergehen, haben zusätzlich zur Folge, dass Wertsetzungen und Werthaltungen mit den (neuen) Begrifflichkeiten des veränderten Erfahrungsraums kollidieren. Die Anwendung von ansonsten akzeptierten ethischen Normen wird dann zu einem Problem, wie wir z. B. in der Medizin und der Gen–und Biotechnologie heute erleben.

6. Welche Aufgaben ergeben sich daraus für eine Ethik?

Die Ethik ist die wissenschaftliche Disziplin, die die methodischen Instrumentarien zur Verfügung stellen, um einer Gesellschaft rationale moralische Kriterien an die Hand zu geben. Die Ethik entwickelt als wissenschaftliche Disziplin Normen des Verhaltens und begründet diese Normen und spezifiziert deren Beziehungen untereinander. Ethik überprüft und schafft Konsistenz unter den Normen. Die geschriebenen und ungeschriebenen Kodizes (Recht und Moral) müssen widerspruchsfrei anwendbar sein, wenn sie Handlungen leiten sollen. Die darin liegenden Beziehungen zwischen Normen im Bereich von Sitte, Sittlichkeit und Moral auf der einen Seite und des Rechts auf der anderen Seite sind in der späten oder alten traditionellen Gesellschaft in aller Regel kohärent und widerspruchsfrei. Dort, wo sie es nicht sind, wird nachkorrigiert werden, damit das intuitive Rechtsempfinden in Gleichklang mit der Moral kommt. Die wissenschaftliche Disziplin, die in der traditionellen Gesellschaft diese Kohärenz der religiösen oder weltanschaulichen Normen in aller Regel zeigt und sicherstellt, ist die Ethik. Ihre Aufgabe beschränkt sich auf die Prüfung der Kohärenz der Normen. Die weitgehend konsenten Normen müssen nicht geschaffen werden, sondern allenfalls explizit dargestellt werden. Als konsente Normen erscheinen sie aber in der traditionellen Gesellschaft als weitgehend unveränderbar und nicht hintergehbar.

In der posttraditionellen Gesellschaft fehlen fast immer in großem Maße die Normen selbst. Jetzt wird die Begründung und Schaffung von Normen zur zentralen Aufgabe der Ethik. Die ethische Herausforderung liegt in der posttraditionellen Gesellschaft, darin, dass der Wandel der Werte, die Normverletzung, der Tabubruch, nun zum Wert wird, und Normen allenfalls zeitweilig Geltung gewinnen, sofern sie begründet werden können. Die Ethik hat also in der posttraditionellen Gesellschaft neben der Prüfung der Normenkohärenz zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Kodizes die Aufgabe, Normen selbst zu entwickeln und zu begründen.

Im Bereich der Wirtschaft ist diese Struktur der posttraditionellen Gesellschaft u. a. als Akzeptanzproblem in vielfältiger Weise virulent: Lebenslanges Lernen ist erforderlich, um dem Wandel der wissenschaftlich–technischen, organisatorischen Normen bis hin zu den kommunikativen Normen bewältigen zu können; und die Diskussion um Globalisierung, Wirtschaftsstandort und Sozialversicherungsstandards sind «Verstehensprozesse einer Gesellschaft“ im Kontext von Werthaltungen. So werden sie Gegenstand der Untersuchungen der Ethik. Um ihre Begründung und Schaffung bemüht sich in der posttraditionellen Gesellschaft die Ethik. Bei allem Normenwandel bleiben diese Verstehensprozesse selbst innerhalb philosophisch begründeter Begriffsrahmen — im Sinne unserer obigen Darstellung — rational verankert. Deshalb bietet die Wirtschaftsethik eine Chance: Ein Unternehmen kann — bei aller gesellschaftlich gebotenen Flexibilität — damit eine Stabilität hinsichtlich der Verbindlichkeit der individuellen und kollektiven Handlungen trotz des Fehlens eines allgemeinen Normenkonsenses erreichen, indem es sein eigenes Wertesystem individuell in der posttraditionellen Gesellschaft formuliert und seinen Partnern gegenüber garantiert. Dieses System von Werten muss eine Reihe nicht leicht zu erreichender Bedingungen erfüllen: Der zu erwartende Wertewandel muss so antizipiert werden, dass das Wertesystem nicht schon überholt ist, wenn es im Unternehmen konsent eingeführt ist. Gleichzeitig muss es verbindlich sein. Da der Konsens über die Werte in der posttraditionellen Gesellschaft nicht trivialerweise zu erlangen ist, muss eine Beteiligung aller Betroffenen bei der Formulierung der Werte sichergestellt sein, ohne die Funktion der Werte in den Handlungsfolgen aus dem Auge zu verlieren. Die Kohärenz der Werte, auch mit den nationalen und internationalen Rechtssystemen, sowie den Handlungsräumen der Mitbewerber muss bedacht sein.

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